Nummer 39 der „Blätter für Öffentliches Recht“ zum downloaden
Können wir erwarten, dass Kontaktverbote, Bewegungsverbote und Verbote kritischer Ansichten, d.h. Einschränkungen der Menschenrechte und Freiheiten nach der Corona-Pandemie positive Folgen für die Rechtsstaatlichkeit haben werden? Werden sich administrative Beschränkungen auf Freiheiten auswirken so wie sich beispielsweise Militärtechnologien und Kriege „vom Stacheldraht bis zum Kernkraftwerk“ auf den Frieden ausgewirkt haben (G. Agamben)? Der Ausnahmezustand – und damit kommen wir zum Wesentlichen des Problems – ist ein Ort, an dem sich Willkür und Rationalität treffen. In dieser Dichotomie liegt das Verhältnis zwischen autoritärem Staat und Rechtsstaat. Ersterer impliziert die Herrschaft nach den Vorstellungen eines Mannes, einer Partei, einer Gruppe von interessenbezogenen Personen. Letzterer geht von der Herrschaft des Staatsvolkes aus, das Parteien und Einzelpersonen einsetzt, um den Willen des Volkes zu verwirklichen. Ersterer rechnet mit willkürlichen Entscheidungen und politischer Verwilderung als legitimer Methode, die das Gesetz entscheidend festlegt (die Quelle des Gesetzes ist der Wille eines Mannes: „Das Gesetz, das bin ich“). Letzterer berücksichtigt rationale Entscheidungen und die rechtliche Zivilisierung der Politik, die im Rahmen des rationalen Rechts bleiben müssen (die Quelle des Rechts ist die volonté générale: „Das Gesetz, das sind wir“). Unter außergewöhnlichen Umständen wurde de facto die Exekutivgewalt anstelle des Gesetzgebers eingesetzt. Dies stärkt die politische Entscheidungsfindung und macht das Prinzip der Gewaltenteilung, das den Rechtsstaat definiert, ungültig.
Unter den Bedingungen des westlichen Balkans entfalten die Entscheidungen des Staatspräsidenten oder der Regierungschefs und des Zivilschutzes direkte Gesetzeskraft. Es wird eine Herrschaft der Exekutive eingerichtet, die direkt den politischen Parteien dient. Rechtliche und politische Konsequenzen werden durch Entscheidungen deutlich, die die Freizügigkeit, die Presse- und Versammlungsfreiheit einschränken und in die Privatsphäre der BürgerInnen eingreifen. Ohne sichtbare Anlehnung an die Wissenschaft werden Maßnahmen eingeführt, die den Test logischer Vergleiche und gesunder Menschenverstandskontrollen nicht bestehen. Die wirklichen Folgen sind unsichtbar und führen zur Gewöhnung an das Prinzip des Führers und an die unkritische Akzeptanz von Notfallbestimmungen. Dies schafft einen Nährboden für eine autoritäre Herrschaft, die formal von der prozeduralen Demokratie abgedeckt wird. Unter den Post-Konflikt-Bedingungen der westlichen Balkanstaaten bestärkt das die Herrschaft völkischer Parteien, die ihre eigene Legitimität aus Kriegszielen ziehen: Ethnische Säuberungen, ethnisch-religiöse Diskriminierungen, schwere Verbrechen (gegen die Menschlichkeit) und ihre Großmacht korrelieren in politischen Ideologien und Praxen. Die Folgen können bereits erfasst werden: Langfristige Kontrolle der wichtigsten Herrschaftshebel und finanzieller Gewinn aus Maßnahmen gegen Pandemien. Alles basiert auf der Positionierung des Parteikaders in den entsprechenden Verwaltungsposten.
Es ist in erster Linie die Aufgabe von JuristInnen, sich dem Diktat der Exekutive und möglichen Verstößen gegen die Verfassungsordnung zu widersetzen. Der Einwand, dass JuristInnen dazu schweigen, ist falsch. Mit seiner Entscheidung vom 24. April 2020 erteilte das Verfassungsgericht von Bosnien und Herzegowina dem Zivilschutzhauptquartier und der Regierung der Föderation von Bosnien und Herzegowina eine Lektion über willkürliche Regelungen, welche die in der Verfassung garantierten Freiheiten verletzen. Die Entscheidung kam mit einer sichtbaren Verzögerung zustande, da die Abschwächung der Maßnahmen auch ohne sie angekündigt wurde. Sie ist allerdings als rechtliche Unterweisung über die Verpflichtungen der Exekutive weiterhin sinnvoll, um „unter Beteiligung bedeutender Vertreter der Gesundheitsberufe öffentlich zu erklären […], ob alle Maßnahmen bestehen müssen, wie lange sie dauern und wie sie möglicherweise gemindert oder verschärft werden“. Das Kompetenzzentrum für Öffentliches Recht veröffentlichte auf seiner Website auch eine Reihe von Gutachten zu den verfassungswidrigen Maßnahmen der Exekutive. Darüber hinaus zeugen die Ergebnisse dieser Ausgabe von einer begründeten rechtlichen Reaktion auf die wild gewordene Exekutive. Das Problem sind hier also nicht die schweigenden JuristInnen. Das Problem ist ein anderes: Die korrupte politische Klasse, die ineffiziente Bürokratie, die herzlose Wirtschaft und die zum Teil unter Amnesie leidenden Staatsanwaltschaften. Alles existierte schon vor der Pandemie - diese hat nur verdeutlicht, was bisher zerstört wurde.