Nummer 15 der Blätter für Öffentliches Recht zum downloaden
Was verbindet Papst Franziskus, den ehemaligen Richter des Den Haager Tribunals Frederik Harhoff, den amerikanischen Dissidenten Edward Snowden und den islamischen Geist-lichen Izet Čamdić aus Zavidovići (BuH): Die Forderung nach einer neuen Gerechtigkeit, nach einer gerechten Gesellschaftsordnung!
Papst Franziskus hat im Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium (Freude des Evangeliums) die „Vergötte rung des Geldes“ verurteilt und die Politiker aufgefordert, dringend allen Bürgern eine würdevolle Arbeit, Bildung und Gesund-heitsversorgung zu garantieren. Sein Wort gilt heute als ein Aufruf für die Errichtung einer sozialen Gerechtigkeit. Der dänischen Richter und Professor der Rechtswissenschaften Frederik Harhoff hat schon als Rich ter des Den Haager Tribunals für das ehemalige Jugoslawien gewarnt, dass das Haager Tribunal nicht mehr Recht spricht, sondern politische Entscheidungen um setzt. Seine Kritik kann als Plädoyer für gerechtere Strafen in einer Welt, die versteht, was ein Verbrechen ist, gelesen werden. Der Mann des Jahres (österreichische Wochenzeitung Profil) Edward Snowden ist auf Grund eines Spionageparagraphen aus dem Jahr 1917 angeklagt. Sein Engagement hat die Möglichkeit eröffnet, eine gerechtere Beziehung zur digitalen Welt zu schaffen und die Forderung in den Mittelpunkt gerückt, die digitale Welt auf demokratische Weise zu zivilisieren. Die Realisierung hängt von uns allen ab. Der islamische Geistliche Izet Čamdić hat in seiner Freitagspredigt (Hutba) in der Moschee der Stadt Zavidovići vom 13. Dezember 2013, gewarnt, dass das Wort Gottes gleichzeitig Wegweiser und Fühung sei, und dazu aufgerufen, immer auf der Seite der Gerechtigkeit zu stehen und für die Würde aller zu kämpfen: „Es ist unzureichend, nur ein religiöses Ritual zu praktizieren und von Zeit zu Zeit uns annehmbare gute Dinge zu tun. Du wirst vor den Herrn treten, weder Ansehen noch Reichtum werden dir helfen, wenn du ungerecht vorgehst und dem Hilflosen Macht demonstrierst. Die Verpflichtung ist, sich der Ungerechtigkeit in den Weg zu stellen und mit den eigenen Handlungen eine gerechte Gesellschaft zu formen, die allen zugute kommen wird, nicht nur den Privilegierten. Der größte Jihad ist, der Ungerechtigkeit Nein zu sagen!”
Die Forderung nach einer neuen Gerechtigkeit ist eine Forderung unserer Zeit.
Die sozialen Unruhen haben gezeigt, dass in einem Teil von Bosnien und Herzegowina eine kritische Masse existiert, die ethnische Unterschiede ignorieren, mentale Blockaden umgehen und rational handeln kann. Eine Reaktion gegen das System ist eine Reaktion auf Ungerechtigkeit. Allerdings, wenn die Revolutionäre nicht auf dem Thron landen, enden sie am Galgen — die Gerichte stehen vor der Aufgabe, die gerechtfertigten Demonstrationen als Straftaten zu individualisieren. Was machen wir mit der Gerechtigkeit? Gleich-heit, verstanden als proportionelle Gleichheit, stellt eine Orientierung in der aristotelischen Ethik dar. „Jedem das Seine“ ist eine Formel zur Bestimmung der Gerechtigkeit bei Cicero und Thomas von Aquin. Von „jedem das Seine“ gelangt man leicht zur marxistischen Maxime „jedem nach Bedarf“. Damit werden die Gerichte aber nichts anfangen können. Die Antwort eines schlauen Richters müsste sein: „Sie suchen die Gerechtigkeit. Ich kann Ihnen lediglich ein Urteil geben.“ Die Urteile werden jedoch auf Grundlage von Gesetzen ergehen, die für den Nutzen eines ungerechten Systems geschaffen worden sind.
Zu einer neuen sozialen Gerechtigkeit kann es nicht ohne radikale geistige Einschnitte und ohne die Hilfe der Gerichte kommen, die das Gesetz von Recht unterscheiden. Es ist kein Zufall, dass die Radbruchsche Formel, wonach ein Richter ein ungerechtes Gesetz nicht anwenden darf, als Reaktion auf den deutschen Faschismus entstanden ist. Gerade in Bosnien wird die Bedeutung dieser Formel getestet werden. Hier werden die Richter den bosnischen Weg in eine neue Ära der sozialen Gerechtigkeit vorzeichnen, wenn sie Entscheidungen über Straftaten, die im Rahmen der Demonstrationen begangen wurden, treffen.
Edin Šarčević